Artikel zur Mikroinformatik

Hannemann, D., 1992: "Mikroinformatik, ein neuer Studiengang stellt sich vor", in "Karriereführer", Wison Verlag, Köln, ISBN 3-87951-149-7

 

Wissen kompakt:

Mikroinformatik

ein neuer Studiengang stellt sich vor

 

Professor Dr. Dieter Hannemann ist Physiker und Ingenieur und hat sich nach seinen Studien der Technischen Informatik zugewandt. An der Fachhochschule Bochum, Abt. Gelsenkirchen gründete er 1979 den Bereich Mikrocomputertechnik,dessen Aktivitäten vor allem im Bereich des Technologietransfers liegen.

Zum 1.8.1992 wurde die Fachhochschulabteilung Keimzelle der neue FH Gelsenkirchen, an deren Aufbau Prof. Hannemann maßgeblich beteiligt war und ist (Prorektor und Gründungsdekan des Fachbereichs Informatik)

 

Begriffsbestimmungen

Was verbirgt sich hinter dem Wort Mikroinformatik? So wie es bei vielen anderen Wissenschaften einen Zweig gibt, der sich mit den kleinsten Forschungsobjekten befaßt, so hat auch die Informatik spezielle Aufgabenstellungen, die sich mit den heute weit verbreiteten mikrominiaturisierten Systemen befassen. Beispiele für "Mikrowissenschaften" aus anderen Bereichen sind: Mikroelektronik, Mikrobiologie, Mikrophysik, Mikrosystemtechnik, Mikromechanik, Mikrostrukturtechnik etc. Im Vordergrund dieser Wissenschaften steht immer ihre Anwendung auf die kleinsten Systeme oder Objekte.

Die Bezeichnung "Informatik" für "die systematische Verarbeitung von Informationen im allgemeinen und auf Maschinen (Computern) im besonderen" ist noch recht jung und wird auch häufig mit Computer-Wissenschaft (wie im Englischen: Computer Science) übersetzt. In der Computerwelt (Informatik) geht es im wesentlichen um Informationen und Daten. Es werden Zahlen, Texte und Bilder, sowie neuerdings auch Töne (Sprache und Musik) abgespeichert, umgeformt und systematisch bearbeitet. Ein weiteres Aufgabengebiet für die Computer ist die Steuerung von Geräten und Maschinen (Autos, Züge, Raketen, Kameras, Waschmaschinen, etc.). Die Informatik entwickelt für alle diese Anwendungsfelder Problemlösungen (Computer und Programme). Die den Programmen zugrunde liegenden Problemlösungsstrategien nennt man auch (Lösungs-) Algorithmen. Das Feld der Hardware, d.h. die Entwicklung von Computern, wird von der Technischen Informatik bearbeitet (s.a. Bild 1).

 

Bild 1: Der Studiengang Mikroinformatik und die Nachbardisziplinen

Das Bild 1 macht deutlich, wie sich die Mikroinformatik in den Kreis benachbarter Disziplinen einordnet. Die bei den vier Wissenschaften in den Ellipsen aufgeführten Stichworte sind nur plakativ zu sehen und stellen selbstverständlich keine erschöpfende Beschreibung der Studiengänge, Studieninhalte oder der Studienfächer dar. Von den vier Unterdisziplinen der Informatik hat die Technische Informatik eine starke Verbindung über die Elektrotechnik hin zur Elektronik und Mikroelektronik und von dort weiter zur Technischen Mikroinformatik. Die Angewandte Informatik dagegen korrespondiert direkt mit der entsprechenden Unterdisziplin der Mikroinformatik. Die Praktische Informatik, d.h. die Programmiertechnik - angewandt auf die Mikrocomputer - hat eine gewichtige Verbindung zum Software-Engineering der Mikroinformatik. Die Verbindung zwischen der Mikroelektronik und der Mikroinformatik besteht im wesentlichen darin, daß sich die Mikroinformatik der Chips bedient, die die Mikroelektronik entworfen und produziert hat.

Die Mikroinformatik macht es sich somit zur Aufgabe Problemlösungen durch die Entwicklung von Mikrocomputern und anderen Mikrosystemen, sowie spezieller Algorithmen (Programme) herbeizuführen. Diese Beschreibung läßt sich mit einigen Einschränkungen auf die folgende Kurzform bringen:

Problemlösungen mittels Mikrocomputern in Technik und Organisation

Bild 2: Ein Beispiel für die Einteilung der Mikrocomputer

Mikroinformatik

Mikrocomputertechnik

Informatik

Personal Computer (PC)

Industrie-PC

Mikrocontroller

Kundenspezifische Chips

Fuzzy-Technologie

Software-Engineering

Standard-Software

Datenbanken

PC-Netze (LAN)

CA-Techniken

Mikrosystemtechnik

Bild 3: Die beiden Stützpfeiler der Mikroinformatik (CA = Computer Aided = computerunterstützt)

 

Aufgabenbereiche

Die Mikroinformatik befaßt sich also mit der Entwicklung und dem Einsatz von Mikrocomputern und sogenannten Mikrocontrollern, sowie den zugehörigen Programmen. Zu den Mikrocomputern zählen z.B. die bekannten Personal Computer (PC). Die PC gehören zur Gruppe der "freiprogrammierbaren Computer" und stellen in dieser Gruppe die am weitesten verbreiteten Computer überhaupt dar. Ihr Einsatz in den Verwaltungen und Betrieben, in Forschung und Entwicklung sowie als sog. "Industrie PC" unter rauhen Bedingungen zur Steuerung von Prozessen oder zur Abwicklung von Telefongesprächen usw. hat sie als ein unentbehrliches und universelles Werkzeug ausgewiesen.

Ein weiteres großes Betätigungsfeld für die Mikroinformatik sind die sog. "eingebetteten Computer", d.h. die unzähligen Mikrocomputer in den unterschiedlichsten Geräten und Maschinen, die uns im Hause, in der Freizeit, im Hobby und im Beruf umgeben. Diese eingebetteten Mikrocomputer werden auch Mikrocontroller genannt.

Das Bild 2 zeigt eine mögliche Einteilung der Mikrocomputer auf der Basis der hier vorgestellten Kriterien. Die beiden Zweige "frei programmierbar" und "festprogrammiert" werden im wesentlichen von den beiden Studienrichtungen "Angewandte Mikroinformatik" und "Technische Mikroinformatik" repräsentiert (siehe unten). Die selbstlernenden Computer sind noch recht neu und so aufgebaut, wie man sich heute den Aufbau der menschlichen Gehirne vorstellt (Neuronen = Nervenzellen des Gehirns). Eine weitere Anleihe an die menschliche Natur stellen die sog. Fuzzy-Computer dar. Diese Technologie geht auf völlig andere Weise, vor allem an die Lösung von Steuerungsproblemen, heran. Das englische Wort Fuzzy wird in diesem Zusammenhang mit "unscharf" übersetzt, d.h. anstelle der sonst üblichen scharfen Mengen der binären Logik (nur ja/nein Aussagen), treten unscharfe Mengenzuordnungen. Ganz so wie im menschlichen Bereich, wenn man sagt: "der Raum ist angenehm warm" oder "heute ist es ziemlich kalt".

Zur Erfüllung der dargelegten Aufgaben und zur Hilfe bei der Entwicklung der Problemlösungen gibt es heute ein großes Instrumentarium aus der Mikroelektronik, der Gerätetechnik und der Software-Technologie (Programmentwicklungstechniken). Im Bild 3 wird gezeigt, daß die Mikroinformatik aus den beiden Disziplinen "Mikrocomputertechnik" und "Informatik" hervorgegangen ist. Sie stellt praktisch eine Symbiose dieser beiden bekannten Wissenschaften dar.

Die Mikrosystemtechnik ist ebenfalls eine noch sehr junge Wissenschaft und stellt eine Verknüpfung der Mikroelektronik mit der Mikromechanik und der Mikrooptik dar, wobei die Informatik die Algorithmen zur systemtechnischen Verknüpfung der Komponenten unter ganzheitlichen Gesichtspunkten entwickelt. Diese Informatik der Mikrosysteme steckt zur Zeit noch in den Kinderschuhen und stellt somit noch einen sehr großen Entwicklungsbereich dar.

 

Der Studiengang Mikroinformatik

Info-Box

Fachrichtung:

Ingenieurwesen

Studiengang:

Mikroinformatik (MI)

Studienrichtungen:

Angewandte MI

 

Technische MI

Abschluß:

Dipl.-Ing.

Studiendauer:

8 Semester

Studienumfang:

160 Semesterwochenstunden

Praxissemester

= 6. Studiensemester

Beginn:

Wintersemester 1993

Bewerbung:

ZVS

Fachhochschule

Gelsenkirchen

Fachbereich:

Informatik (FB5)

Gründungsdekan:

Prof. Dr. Hannemann

Neidenburger Str. 43

Tel. 0209-9596-484


Die gesamte Informatik umfaßt schon heute ein sehr großes Wissensgebiet und kann innerhalb eines Studiums immer nur in Ausschnitten angeboten werden.

Grundstudium

¨Mathematik und Numerische Mathematik

¨Physik und Meßtechnik

¨Grundlagen der Informatik und Höhere Programmiersprachen

¨Grundgebiete der Elektronik

¨Grundgebiete der Mikrocomputertechnik und MC-Betriebssysteme

¨Allgemeinwissenschaftliches

¨Technisches Englisch

Hauptstudium

¨Betriebswirtschaftslehre

¨Bauelemente und Schaltungen der DV

¨Datenübertragung und Netzwerke

¨Software-Engineering

¨Maschinenorientierte Programmierung

¨Ausgewählte Kapitel der Mikroinformatik

Hauptstudium Technische MI

¨Eingebettete MC-Systeme und Steuerungs- und Regelungstechnik

¨Echtzeitbetriebssysteme

¨Computerunterstützter Schaltungsentwurf

¨Test und Zuverlässigkeit

¨Mikrosystemtechnik

Hauptstudium Angewandte MI

¨Industrie-Informatik

¨Computerunterstützte Konstruktion

¨Logistik und Materialflußsteuerung

¨Netze für die industrielle Kommunikation

¨Datenorganisation und Datenbanken

Tabelle 1: Pflichtfächer des Studiengangs Mikroinformatik, mit den Studienrichtungen Technische MI und Angewandte MI

Der hier kurz definierte Arbeitsbereich der Mikroinformatik soll deshalb aus dem gesamten Gebiet der Informatik die Bereiche herausnehmen, die zum einen im Zusammenhang mit der Mikrominiaturisierung stehen und zum anderen in der technischen Anwendung sowie dem Einsatz in der Wirtschaft von herausragender Bedeutung sind. In dem Begriff Mikroinformatik kommt diese Aufgabenstellung unmittelbar und klar zum Ausdruck.

Die Tabelle 1 zeigt, welche Pflichtfächer für den Studiengang Mikroinformatik vorgesehen sind. Das Grundstudium dauert 3 Semester und wird von allen Studenten absolviert. Im Hauptstudium findet dann - in bezug auf einige Fächer - eine erste Spezialisierung gemäß der beiden Studienrichtungen "Angewandte Mikroinformatik" und "Technische Mikroinformatik" statt. Eine weitere Spezialisierung erfolgt durch die Auswahl von Wahlpflichtfächern (Tabelle 2) - in einem Umfang von 12 Semesterwochenstunden.

Das Grundstudium enthält zum einen die üblichen Grundlagenfächer der Ingenieurwissenschaften und zusätzlich bereits eine Ausrichtung auf die Mikrocomputertechnik. Auch ein Aufbaukurs "Technisches Englisch" wird dort angeboten, da dies die internationale Fachsprache in diesem Gebiet - wie auch in allen anderen Wissenschaften - ist.

Das Hauptstudium gliedert sich in zwei Abschnitte: Ein Abschnitt gilt für beide Studienrichtungen, und in dem anderen Abschnitt findet die erforderliche Spezialisierung auf die beiden unterschiedlichen Studienrichtungen statt. Die Ausrichtungen der Technischen und der Angewandten Mikroinformatik wurden bereits oben besprochen. In den beiden unteren Abschnitten der Tabelle 1 kann diese Schwerpunktbildung anhand der dort aufgeführten Fächer nochmals nachvollzogen werden. Weitere Hinweise enthält der Abschnitt über die Berufsfelder - weiter hinten.

Da die Mikrominiaturisierung immer weiter fortschreitet und ihre Anwendungen immer größere Bereiche durchdringen, sollte sich der Studienplan im Verlauf der Zeit in einem gewissen Umfang den Wandlungen und Erfordernissen dieser innovativen Disziplin anpassen können, deshalb wurde das Fach "Ausgewählte Kapitel der Mikroinformatik" hinzugenommen.

 

Wahlpflichtfächer

¨CA-Technik

¨Medieninformatik

¨Computerunterstütztes Lernen und Lehren

¨Medizininformatik

¨Datenkompressionsverfahren

¨Optoelektronik, optische DV

¨Datenschutz und Datensicherung

¨Prozeßlenkung

¨Desktop Publishing

¨Roboter-Technik

¨Fuzzy-Technologie

¨Simulationstechnik

¨Grafische Datenverarbeitung

¨Spezielle Programmiersprachen

¨Künstliche Intelligenz

¨Systeme der Meßtechnik

¨Leistungselektronik

¨Technische Dokumentation

Tabelle 2: Wahlpflichtfächer des Studiengangs Mikroinformatik, für die beiden Studienrichtungen Technische MI und Angewandte MI

Die Wahlpflichtfächer in Tabelle 2 können von Studierenden beider Studienrichtungen belegt werden. Viele der aufgeführten Fächerbezeichnungen sind allgemein bekannt (oder wurden in diesem Aufsatz kurz vorgestellt); es ist jedoch wichtig darauf hinzuweisen, daß es sich hierbei - unter dem Dach der Mikroinformatik - immer um Problemlösungen mit Hilfe von Mikrocomputern oder um eine spezielle Anwendung auf Mikrocomputer handelt.

Berufsfelder

Eine weitere wichtige Frage stellt sich nach dem Einsatzbereich der Ingenieure der Mikroinformatik. Die Tabellen 3 und 4 geben einen kleinen Einblick in das weite Berufsfeld dieser Ingenieure. Da eine breite Grundlagenausbildung stattfindet, ist der Einsatz auch in vielen anderen Tätigkeitsfeldern möglich.

¨ Entwicklung und Programmierung von Steuerungs-und Regelungsmikro- computern (Embedded Control)

¨ Industrie Informatik

- Elektrogeräte-Hersteller

- Produktionsplanung und Steuerung

- Geräte der Unterhaltungselektronik

- Logistik und Materialflußsteuerung

- Automobilindustrie

- Technische Betreuung von CAD Systemen

- Forschungs- und Entwicklungsinstitute

- Fertigungssteuerung

- Hersteller optischer Geräte etc.

- Betriebsdatenerfassung

- Projekte der Mikrosystemtechnik

- Qualitätssicherung

 

- Personalzeiterfassung und Zugangskontrolle

¨ Technische Wartung von MC-Netzen (Local Area Network)

¨ Multimedia, sowie MC-basierte Lehr- und Lernsysteme

- Netze in Kleinbetrieben

- Technische Dokumentation

- Netze an Ausbildungsstätten

- Computeranimation

- Netze in Verwaltungen etc.

- MC-basierte Werbung

 

- MC-Einsatz in der Medientechnik

¨ Vertrieb computerisierter Geräte und Anlagen

¨ Vertrieb MC-basierter Systeme

Tabelle 3: Berufsfelder für Ingenieure der Technischen Mikroinformatik

Tabelle 4: Berufsfelder für Ingenieure der Angewandten Mikroinformatik

 

In der Technischen Mikroinformatik steht im Mittelpunkt die Entwicklung von Hard- und Software für die ständig steigende Anzahl von eingebetteten Mikrocomputern zur Steuerung und Regelung von Geräten, Maschinen, Systemen und Anlagen. Diese Aufgaben müssen heute in immer mehr Betrieben gelöst werden um die Produkte "intelligenter", kundenfreundlicher und preiswerter zu machen und um dem steigenden Konkurrenzdruck gewachsen zu sein.

Der Ingenieur der Angewandten Mikroinformatik dagegen soll keine neuen Mikrocomputer entwickeln, sondern vorhandene sinnvoll einsetzen und zu größeren Systemen zusammenfügen. Der Einsatz dieser Systeme erfolgt auf breiter Basis in allen Bereichen der Wirtschaft und der öffentlichen Verwaltungen. Eine wichtige Aufgabe ist in diesem Zusammenhang die Integration unterschiedlicher Mikrocomputer und Netzwerktopologien, sowie die Verbindung zu größeren Rechnern und Rechenzentren (heterogene Rechnerlandschaften). Auch die Einbindung von Einzelplatzrechnern der Meßwerterfassung in den unterschiedlichsten Arbeitsbereichen (Laboratorien, Werkstätten, Produktion) stellt eine solche Aufgabe dar.

Die bisherigen Erfahrungen des Autors auf den hier geschilderten Arbeitsgebieten - in der Lehre und im Technologietransfer - lassen erwarten, daß dieser neue Studiengang von den Studenten gut angenommen wird und die Ingenieure wiederum ein reiches Betätigungsfeld vorfinden werden.

Literatur:

  • Hannemann, 1991: "Mikroinformatik 1", Fachbuch-Verlag, Hannemann, Gelsenkirchen, ISBN 3-920088-10-7, 336 Seiten.